10 Urteile, die Ihre Leser interessieren könnten
zusammengestellt von Rechtsanwalt/Fachanwalt für Arbeitsrecht u. Fachanwalt für Erbrecht
Michael Henn, Stuttgart
I.
Vertraglicher Freiwilligkeitsvorbehalt für Jahressonderzahlung
Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 10.01.2022, Az. 9 Sa 66/21
Ein in AGB vereinbarter vertraglicher Freiwilligkeitsvorbehalt ist nur dann wirksam, wenn er ausdrücklich darauf hinweist, dass spätere Individualabreden über vertraglich nicht geregelte Gegenstände oder über Sonderzuwendungen nicht vom Freiwilligkeitsvorbehalt erfasst werden.
II.
Unzulässige Verpackungsteuer
Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 29.03.2022, Az. 2 S 3814/20
1. Bei einer kommunalen Verpackungssteuer, deren Steuertatbestand nicht nur Einwegverpackungen für Speisen und Getränke zum Verzehr an Ort und Stelle, sondern auch Einwegverpackungen für Produkte zum Mitnehmen (take-away-Verpackungen) erfasst, handelt es sich nicht um eine örtliche Verbrauchsteuer im Sinne von Art.105 Abs.2a Satz1 GG.
2. Der Steuertatbestand einer kommunalen Verpackungssteuer, die den Verkauf der Produkte zum Mitnehmen - d.h. als mitnehmbares take-away-Gericht oder -Getränk erfasst, stellt normativ die örtliche Radizierung der Steuer nicht ausreichend sicher und gewährleistet damit nicht, dass der belastete Konsum vor Ort (im Gemeindegebiet) stattfindet. Bei Produkten zum Mitnehmen ist im Hinblick auf ihre Transportfähigkeit - auch über größere Strecken - ein Verbleiben im Gemeindegebiet nicht gewährleistet.
3. Der Umstand, dass bei einem Verkauf als mitnehmbares take-away-Gericht oder -Getränk der Konsum und damit auch der Verbrauch der Verpackung am häufigsten im Gemeindegebiet stattfindet und dementsprechend dies den „typischsten“ Fall des Verbrauchs darstellt, genügt nicht für die Annahme der örtlichen Radizierung der Steuer im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 23.07.1963 - 2 BvR 11/61 - und Urteil vom 07.05.1998 - 2 BvR 1991/95 u.a. - jeweils juris). Eine solch weite Auslegung würde das Tor zur Einführung aller möglichen Verbrauch- und Verkehrssteuern durch die Gemeinden in Widerspruch zu den Vorgaben des Grundgesetzes öffnen.
4. Die aufgrund der Satzung der Universitätsstadt Tübingen über die Erhebung einer Verpackungssteuer vom 30.01.2020 erhobene Verpackungsteuer steht in ihrer Ausgestaltung als Lenkungssteuer in Widerspruch zum Abfallrecht des Bundes, namentlich zu den Vorgaben im Kreislaufwirtschaftsgesetz und im Verpackungsgesetz.
5. Die bundesrechtlichen Regelungen des Kreislaufwirtschaftsgesetzes und insbesondere des Verpackungsgesetzes sind als abschließend anzusehen, so dass kein Raum für ausschnittsbezogene kommunale „Zusatzregelungen“ in Form einer Lenkungssteuer zur Vermeidung von Einwegverpackungen bleibt.
6. Der Vorrang der Abfallvermeidung in §6 Abs.1 KrWG begründet für die Kommunen nicht die Zuständigkeit, die abfallwirtschaftliche Zielsetzung der Abfallvermeidung eigenständig „voranzutreiben“. Auch wenn das mit der Einführung der Produktverantwortung verfolgte Ziel einer Reduzierung des Verpackungsaufkommens auf Grundlage der bisherigen Regelungen im bundesrechtlichen Verpackungsgesetz nicht (ausreichend) erreicht worden sein sollte, ist es Sache des Bundesgesetzgebers, dem die Zuständigkeit zur umfassenden Regelung des Rechts der Abfallwirtschaft eingeräumt ist, für Abhilfe zu sorgen und das Regelungssystem des Verpackungsgesetzes fortzuentwickeln.
7. Aus den Regelungen über das umweltpolitische Instrument des Abfallvermeidungsprogramms in §33 KrWG lässt sich keine Berechtigung der Kommunen ableiten, eine kommunale Verpackungssteuer in Widerspruch zur Konzeption des Bundesgesetzgebers einzuführen.
8. Der die Obergrenze der Besteuerung definierende Begriff der „Einzelmahlzeit“, wonach der Steuersatz pro Einzelmahlzeit auf maximal 1,50 EUR begrenzt wird, ist in der regulären Besteuerungspraxis nicht ausreichend vollzugsfähig und verstößt damit gegen den Grundsatz der Belastungsgleichheit in Art.3 Abs.1 GG.
III.
Erstattung bei Tilgung von Gemeinschaftsverbindlichkeiten
BGH, Urteil vom 25.03.2022, Az. V ZR 92/21
Ein Wohnungseigentümer, der Verbindlichkeiten der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer getilgt hat, kann von den anderen Eigentümern auch dann keine unmittelbare (anteilige) Erstattung seiner Aufwendungen verlangen, wenn er später aus der Gemeinschaft ausgeschieden ist; das gilt auch bei einer zerstrittenen Zweiergemeinschaft (Fortführung von Senat, Urteil vom 25. September 2020 - V ZR 288/19, NZM 2021, 146).
IV.
Krankheitsbedingte Kündigung - Verpflichtung zum erneuten Angebot eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (bEM) - Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 10.02.2022, Az. 17 Sa 57/21
1. Der Arbeitgeber hat gem. § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX grundsätzlich ein neuerliches betriebliches Eingliederungsmanagement (bEM) durchzuführen, wenn der Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres nach Abschluss eines bEM erneut länger als sechs Wochen durchgängig oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt war, und zwar auch dann, wenn nach dem zuvor durchgeführten bEM noch nicht wieder ein Jahr vergangen ist.
2. Dies gilt auch dann, wenn die Arbeitsunfähigkeit über den Abschluss des vorherigen bEM hinaus ununterbrochen nochmals mehr als sechs Wochen angedauert hat.
3. Der Arbeitgeber kann unabhängig davon, ob bereits ein zuvor durchgeführtes bEM Rückschlüsse auf die Nutzlosigkeit eines weiteren erlaubt, geltend machen, dass die Durchführung eines (weiteren) bEM keine positiven Ergebnisse hätte zeitigen können.
4. Für die objektive Nutzlosigkeit des bEM trägt der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast. Er muss auch von sich aus zum Fehlen alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten oder zur Nutzlosigkeit anderer, ihm zumutbarer Maßnahmen vortragen. Allerdings gilt dies nur im Rahmen des ihm Möglichen und des nach den Umständen des Streitfalls Veranlassten.
5. Die Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers hat keine Vermutungswirkung dahingehend, dass ein bEM eine Kündigung nicht hätte verhindern können.
6. Die Beweislast für eine Leistungsbefreiung nach § 275 BGB trägt nach allgemeinen Grundsätzen diejenige Partei, die daraus eine ihr günstige Rechtsfolge herleitet.
V.
Arbeitszeitbetrug
Landesarbeitsgericht Thüringen, Entscheidung vom 03.05.2022, Az. 1 Sa 18/21
Ein Arbeitszeitbetrug, bei dem ein Mitarbeiter vortäuscht, für einen näher genannten Zeitraum seine Arbeitsleistung erbracht zu haben, obwohl dies tatsächlich nicht oder nicht in vollem Umfang der Fall ist, stellt eine besonders schwerwiegende Pflichtverletzung dar und erfüllt an sich den Tatbestand des wichtigen Grundes im Sinne von §626 Abs.1 BGB. Dasselbe gilt für den Verstoß eines Arbeitnehmers gegen seine Verpflichtung, die abgeleistete, vom Arbeitgeber sonst kaum sinnvoll kontrollierbare Arbeitszeit korrekt zu dokumentieren.
Dabei kommt es nicht entscheidend auf die strafrechtliche Würdigung, sondern auf den mit der Pflichtverletzung verbundenen schweren Vertrauensbruch an. Der Arbeitgeber muss auf eine korrekte Dokumentation der Arbeitszeit von am Gleitzeitmodell teilnehmenden Arbeitnehmern vertrauen können. Auch dann, wenn der Arbeitnehmer wiederholt Pausen erheblich überzieht und seine Arbeitszeit falsch dokumentiert, ist wegen des damit verbundenen Vertrauensverlusts ein wichtiger Grund im Sinne des §626 BGB an sich gegeben. Ebenso ist die hartnäckige Missachtung der Anweisung, bei Raucherpausen auszustempeln, geeignet, eine außerordentliche Kündigung zu begründen.
VI.
Auslegung einer Ausgleichsklausel in einem Aufhebungsvertrag - Aufrechnung wegen früherer Gehaltsüberzahlung
Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern, Entscheidung vom 20.04.2022, Az. 5 Sa 100/21
1. Ausgleichsklauseln in einem gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleich oder in einem Aufhebungsvertrag sind im Interesse klarer Verhältnisse grundsätzlich weit auszulegen. Durch eine Ausgleichsklausel im Zusammenhang mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses wollen die Parteien in der Regel das Arbeitsverhältnis abschließend bereinigen und alle Ansprüche erledigen, gleichgültig, ob sie an diese dachten oder nicht.
2. Die Klausel "… dass mit der Erfüllung dieser Aufhebungsvereinbarung sämtliche wechselseitigen Ansprüche aus und in Verbindung mit dem Arbeitsverhältnis und seiner Beendigung, gleich aus welchem Rechtsgrund, ob bekannt oder unbekannt, vollständig erledigt sind" schließt eine Aufrechnung wegen einer früheren Gehaltsüberzahlung aus, wenn dieser Anspruch der Arbeitgeberin neben den sonstigen Ansprüchen der Parteien nicht gesondert aufgeführt ist.
3. Die Aufrechnung ist auch nicht deshalb noch möglich, weil die Parteien vereinbart haben, dass das Arbeitsverhältnis ordnungsgemäß und entsprechend der arbeitsvertraglichen Regelungen abgerechnet wird und die sich ergebenden Nettobeträge ausgezahlt werden.
VII.
Handelsvertreter und Rechtsdienstleistungesetz
OLG Dresden, Urteil vom 26.04.2022, Az. 14 U 2489/21
Ein Reisebüro, das als Handelsvertreter die Stornoabwehr für den Reiseveranstalter übernimmt, erbringt aufgrund seiner weisungsgebundenen Interessenwahrnehmungspflicht nach §86 Abs.1 Hs. 2 HGB nicht selbständig eine außergerichtliche Rechtsdienstleistung, so dass es hierfür nicht dem Verbot mit Erlaubnisvorbehalt nach §3 RDG unterliegt.
VIII.
Zulässige Abfindung für Ausscheiden aus gemeinnütziger GmbH
OLG Hamm, Urteil vom 13.04.2022, Az. 8 U 112/21
1. Die Regelung in der Satzung einer gemeinnützigen GmbH (gGmbH), wonach im Fall des Ausscheidens eines Gesellschafters eine Abfindung nur in Höhe des Nennbetrages seiner Stammeinlage zu leisten ist, ist nicht nach §138 BGB nichtig, selbst wenn ein grobes Missverhältnis zwischen dem Nennwert und dem nach allgemeinen gesetzlichen Regeln zu bestimmenden Abfindungsbetrag besteht. Wenn die Gesellschaft steuerbegünstigte Zwecke i.S.d. §§55 ff. AO verfolgt, ist die Klausel zulässig und geboten.
2. Der Zulässigkeit der Beschränkung des Abfindungsanspruchs steht nicht entgegen, dass auch (Insolvenz-)Gläubigern des Gesellschafters nur der Nennbetrag als Haftungsmasse zur Verfügung steht, sofern die Satzung keine abweichenden Regelungen für unterschiedliche Ausscheidensgründe enthält.
IX.
Haftung des Betreibers eines sozialen Netzwerks
OLG Karlsruhe, Urteil vom 24.05.2022, Az. 14 U 270/20
1. Der Betreiber eines sozialen Netzwerks ist auch bei Fehlen einer diesbezüglichen, wirksamen Klausel in den Nutzungsbedingungen berechtigt, Beiträge zu löschen, die den objektiven Tatbestand der Volksverhetzung (§130 StGB) erfüllen.
2. Für das Vorliegen dieses Tatbestands ist der Betreiber des sozialen Nutzwerks darlegungs- und beweisbelastet.
3. Eine Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens ist anzunehmen, wenn der Beitrag über die Überzeugungsbildung hinaus mittelbar auf Realwirkungen angelegt ist und eine breite Öffentlichkeit erreicht. Wenn eine Äußerung im Rahmen eines sozialen Netzwerks erfolgt, ist es eine Frage des Einzelfalls, ob die notwendige Außenwirkung erreicht wird.
X.
Grobe Fahrlässigkeit bei unterbliebener Vergewisserung über ordnungsgemäße Betätigung eines Küchenherdes unmittelbar vor Verlassen des Hauses
OLG Bremen, Urteil vom 12.05.2022, Az. 3 U 37/21
1. Die Versicherung ist berechtigt, die Versicherungsleistung zu kürzen, wenn der Versicherungsnehmer im guten Glauben, den Elektroherd ausgeschaltet zu haben, das Haus verlässt, tatsächlich aber beim Abschalten eine falsches Kochfeld bedient hat.
2. In einem solchen Fall liegt grobe Fahrlässigkeit vor, weil eine Vergewisserung, ob das richtige Kochfeld ausgeschaltet und auch kein anderes in Betrieb ist, unterblieben ist.
3. Eine solche Nachschaupflicht besteht jedenfalls dann, wenn der Küchenherd ohne Sicht auf die Bedienelemente und in dem Wissen, dass unmittelbar an die Beendigung des Bedienvorgangs das Haus verlassen wird, betätigt worden ist.
Für Rückfragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.
Michael Henn
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Erbrecht
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Schriftleiter mittelstandsdepesche
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