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zusammengestellt von Rechtsanwalt/Fachanwalt für Arbeitsrecht u. Fachanwalt für Erbrecht
Michael Henn, Stuttgart
I.
Die außerordentliche Kündigung eines Kochs in einer evangelischen Kindertagesstätte wegen Kirchenaustritts ist unwirksam
Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 10. Februar 2021, Az. 4 Sa 27/20
Die beklagte Evangelische Gesamtkirchengemeinde Stuttgart betreibt ca. 51 Kindertageseinrichtungen mit rund 1.900 Kindern. Der Kläger ist bei der Beklagten seit 1995 als Koch in einer Kita beschäftigt. Der Kläger erklärte im Juni 2019 seinen Austritt aus der evangelischen Landeskirche. Nachdem die Beklagte von dem Austritt Kenntnis erlangt hatte, kündigte sie das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger außerordentlich und fristlos mit Schreiben vom 21. August 2019.
Die Beklagte sieht ihr Handeln und Verständnis vom besonderen Bild der christlichen Dienst-gemeinschaft geprägt. Mit dem Kirchenaustritt verstoße der Kläger deshalb schwerwiegend gegen seine vertraglichen Loyalitätspflichten.
Der Kläger hat vorgetragen, dass sich sein Kontakt mit den Kindern auf die Ausgabe von Getränken beschränkt habe. Auch mit dem pädagogischen Personal in der Kita habe er nur alle zwei Wochen in einer Teamsitzung Kontakt gehabt, wo es um rein organisatorische Probleme gegangen sei.
Das Arbeitsgericht Stuttgart hat mit Urteil vom 12. März 2020 (22 Ca 5625/19) die Kündigung der Beklagten für unwirksam erklärt. Gegen dieses Urteil hat die Beklagte am 5. Mai 2020 Berufung eingelegt mit der sie weiterhin die Abweisung der Kündigungsschutzklage verfolgt.
Das Landesarbeitsgericht hat wie das Arbeitsgericht Stuttgart die Kündigung der Beklagten für unwirksam erachtet und deshalb die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Das Landesarbeitsgericht schloss sich der Begründung des Arbeitsgerichts an. Die Loyalitätserwartung der Beklagten, dass der Kläger nicht aus der evangelischen Kirche austrete, stelle keine wesentliche und berechtigte Anforderung an die persönliche Eignung des Klägers dar.
Siehe:
https://landesarbeitsgericht-baden-wuerttemberg.justiz-bw.de/pb/site/pbs-bw-rebrush-jum/get/documents_E1689907689/jum1/JuM/import/landesarbeitsgericht%20baden-w%C3%BCrttemberg/Pressemitteilungen/2021/PM-10.02.2021-2.pdf
II.
Zuschläge für Nachtarbeit
Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 4.12.2020, 12 Sa 61/20 –
Gleichlautend 12 Sa 63/20 und 12 Sa 71/20
1. Die unterschiedlichen Nachtarbeitszuschläge des Manteltarifvertrags für die obst- und gemüseverarbeitende Industrie in Baden-Württemberg verstoßen nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art.3 Abs. 1 GG).
2. Die Tarifparteien können Nachtarbeitszuschläge im Rahmen der Tarifautonomie grundsätzlich auch deshalb unterschiedlich gestalten, um die präventive Wirkung der Nachtarbeitszuschläge gezielt und effektiv einzusetzen.
Siehe:
http://lrbw.juris.de/cgi-bin/laender_rechtsprechung/document.py?Gericht=bw&GerichtAuswahl=Arbeitsgerichte&Art=en&Datum=2020-12&nr=33763&pos=0&anz=5
III.
Verhaltensbedingte Kündigung - verspätete Anzeige der Arbeitsunfähigkeit - Abmahnung - Berücksichtigung späteren Verhaltens
Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 25.11.2020, Az. 10 Sa 52/18
1. Die schuldhafte Verletzung der sich aus § 5 Abs 1 Satz 1 EFZG ergebenden (Neben-)Pflicht zur unverzüglichen Anzeige der Fortdauer einer Arbeitsunfähigkeit kann - je nach den Umständen des Einzelfalls - einen zur Kündigung berechtigenden Grund im Verhalten des Arbeitnehmers i.S.v. § 1 Abs 2 Satz 1 KSchG darstellen.
2. Es gibt kein Mindestmaß an Abmahnungen, bevor ein Arbeitgeber eine sozial gerechtfertigte Kündigung aussprechen kann.
3. Nachträglich eingetretene Umstände können für die gerichtliche Beurteilung insoweit von Bedeutung sein, wie sie die Vorgänge, die zur Kündigung geführt haben, in einem neuen Licht erscheinen lassen.
Siehe:
http://lrbw.juris.de/cgi-bin/laender_rechtsprechung/document.py?Gericht=bw&GerichtAuswahl=Arbeitsgerichte&Art=en&Datum=2020-11&nr=33583&pos=0&anz=6
IV.
Gesamtbetriebsrat - Entsendung - unternehmensfremdes Betriebsratsmitglied
Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 5.11.2020, Az. 14 TaBV 4/20
1. Sowohl der Gesetzeswortlaut des § 47 Abs. 2 BetrVG, der Repräsentationsgedanke sowie die Systematik des Betriebsverfassungsgesetzes sprechen dafür, dass auch unternehmensfremde Mitglieder des Betriebsrats eines Gemeinschaftsbetriebs in den Gesamtbetriebsrat eines Trägerunternehmens entsandt werden dürfen.
2. Es bedarf für eine wirksame Entsendung in den Gesamtbetriebsrat nach § 47 Abs. 2 BetrVG keines Arbeitsverhältnisses zum Trägerunternehmen.
Siehe:
http://lrbw.juris.de/cgi-bin/laender_rechtsprechung/document.py?Gericht=bw&GerichtAuswahl=Arbeitsgerichte&Art=en&Datum=2020-11&nr=33589&pos=3&anz=6
V.
Rechtsweg; Konkurrentenklage; öffentlich-rechtliche Streitigkeit
Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 8.12.2020, Az. 3 Ta 319/20
1. Konkurrentenstreitverfahren um eine Stelle im öffentlichen Dienst, bei denen streitentscheidende Norm Art. 33 Abs. 2 GG ist, betreffen eine öffentlich-rechtliche und keine bürgerliche Rechtsstreitigkeit. Für sie ist demgemäß allein der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten und nicht zu den Arbeitsgerichten eröffnet. Das gilt unabhängig davon, ob die Stelle allein für eine Beschäftigung im Beamtenverhältnis, sowohl im Beamten- wie auch im Arbeitsverhältnis oder allein für eine Beschäftigung im Arbeitsverhältnis ausgeschrieben und vorgesehen ist (ebenso bereits LAG Düsseldorf, Beschluss vom 21.08.2020 - 3 Ta 202/20).
2. Die Zusammenhangszuständigkeit nach § 2 Abs. 3 ArbGG setzt voraus, dass sowohl die anhängige Hauptklage als auch die Zusammenhangsklage bürgerliche Rechtsstreitigkeiten betreffen. Für eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit kann über § 2 Abs. 3 ArbGG daher der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten nicht begründet werden.
3. Im Rechtswegbestimmungsverfahren ist aufgrund der spezialgesetzlichen Regelung des § 17a Abs. 4 Satz 4 - 6 GVG die Zulassung der Rechtsbeschwerde auch in einstweiligen Verfügungsverfahren zulässig und das Rechtsmittel der Rechtsbeschwerde daher bei Zulassung statthaft.
4. Legt der Beschwerdeführer im Rechtswegbestimmungsverfahren die sofortige Beschwerde unmittelbar bei dem Landesarbeitsgericht und nicht beim Ausgangsgericht ein, erfolgt keine Rückgabe der Sache zur Abhilfeprüfung. Vielmehr ist in diesem Fall unmittelbar die Entscheidungskompetenz des Beschwerdegerichts ohne vorgeschaltetes Abhilfeverfahren gegeben (ebenso schon LAG Düsseldorf vom 29.06.2020 - 3 Ta 157/20)
Siehe:
http://www.justiz.nrw.de/nrwe/arbgs/duesseldorf/lag_duesseldorf/j2020/NRWE_LAG_D_sseldorf_3_Ta_319_20_Beschluss_20201208.html
VI.
Gegenstandswert Herabsetzung der Arbeitszeit, Teilzeitanspruch
Landesarbeitsgericht Köln, Beschluss vom 7.12.2020, Az. 2 Ta 195/20
Der Anspruch auf Herabsetzung der Arbeitszeit ist in seinen Auswirkungen eher einer Änderungskündigungsklage als einem Weiterbeschäftigungsanspruch näher. Die Festsetzung von 3 Bruttomonatsgehältern stellt damit eine angemessene Bewertung dar.
Siehe:
http://www.justiz.nrw.de/nrwe/arbgs/koeln/lag_koeln/j2020/2_Ta_195_20_Beschluss_20201207.html
VII.
Fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung - Corona-Pandemie - Besuchskonzept - Krankenhaus – Mitbestimmung
Landesarbeitsgericht Köln, Beschluss vom 22.01.2021, Az. 9 TaBV 58/20
1. Enthält der arbeitsgerichtliche Beschluss über die Einsetzung einer Einigungsstelle eine fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung, ist die Beschwerdebegründungsfrist so lange als gehemmt anzusehen, wie die Frist für die Einlegung des Rechtsmittels nicht abgelaufen ist.
2. Der Betriebsrat eines Krankenhauses hat gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG bei der Ausgestaltung eines Besuchskonzepts iSd. § 5 Abs. 1 Satz 3 CoronaSchVO NRW mitzubestimmen.
Siehe:
http://www.justiz.nrw.de/nrwe/arbgs/koeln/lag_koeln/j2021/9_TaBV_58_20_Beschluss_20210122.html
VIII.
Beteiligtenstellung im Beschlussverfahren; Rechtsmittel
Landesarbeitsgericht Hamm, Beschluss vom 11.01.2021, Az. 12 Ta 568/20
Gegen einen (Zwischen-)Beschluss des Arbeitsgerichts, weitere Stellen am Beschlussverfahren gem. § 83 Abs. 3 ArbGG zu beteiligen, ist die Sofortige Beschwerde für nicht statthaft.
Siehe:
http://www.justiz.nrw.de/nrwe/arbgs/hamm/lag_hamm/j2021/12_Ta_568_20_Beschluss_20210111.html
IX.
krankheitsbedingte Kündigung - betriebliches Eingliederungsmanagement
Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Urteil vom 9.12.2020, Az. 12 Sa 554/20
1. Berufungsbegründungsfrist: Zum Gegenbeweis des in einem Empfangsbekenntnis angegebenen Zustelldatums des erstinstanzlichen Urteils
2. Der Arbeitgeber muss gemäß § 167 Abs. 2 SGB IX nach einem durchgeführten bEM erneut ein bEM durchführen, wenn der Arbeitnehmer nach Abschluss des ersten bEM innerhalb eines Jahres erneut länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig wird. Der Abschluss eines bEM ist dabei der Tag "Null" für einen neuen Referenzzeitraum von einem Jahr. Ein "Mindesthaltbarkeitsdatum" hat ein bEM nicht. Eine Begrenzung der rechtlichen Verpflichtung auf eine nur einmalige Durchführung des bEM im Jahreszeitraum des § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen.
3. Zu den Auswirkungen eines entgegen der rechtlichen Verpflichtung aus § 167 Abs. 2 SGB IX nicht erneut durchgeführten bEM auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung einer krankheitsbedingten Kündigung
Siehe:
http://www.justiz.nrw.de/nrwe/arbgs/duesseldorf/lag_duesseldorf/j2020/NRWE_LAG_D_sseldorf_12_Sa_554_20_Urteil_20201209.html
X.
Einstweiliger Rechtsschutz; Untersagung von Entlassungen; Betriebsänderung; Gemeinschaftsbetrieb; Übergang von kirchlicher Einrichtung zu weltlichem Träger; objektive und subjektive Antragserweiterung im Beschwerderechtszug
Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 06.01.2021, Az. 4 TaBVGa 6/20
1. Eine Unterlassungsverfügung zur Sicherung der Beteiligungsrechte des Betriebsrats aus §§ 111, 112 BetrVG auf Unterrichtung, Beratung und Verhandlung über eine geplante Betriebsänderung kommt gemäß § 85 Abs. 2 ArbGG iVm. §§ 935, 940, 938 Abs. 1, 2 ZPO schon aus europarechtlichen Gründen grundsätzlich in Betracht.
2. In einem Gemeinschaftsbetrieb richtet sich der Anspruch aus §§ 111, 112 BetrVG gegen sämtliche Betriebsarbeitgeberinnen. Diese sind im Verfügungsverfahren zu beteiligen. Dagegen richtet sich die als Sicherungsmaßnahme begehrte Untersagung von Entlassungen gegen den jeweils betroffenen Vertragsarbeitgeber, der allein die Entlassung bewirken kann.
3. Einem Betriebsrat, der erst zu einem Zeitpunkt gewählt wird, zu dem die Planung über die Betriebsänderung bereits abgeschlossen und mit der Durch-führung des Planes begonnen worden ist, stehen die Ansprüche aus §§ 111 ff. BetrVG nicht zu. Es bleibt offen, ob beim Übergang von kirchlicher Einrichtung zu weltlichem Träger die vormalige kirchliche Mitarbeitervertretung bis zur Wahl eines Betriebsrats ein Übergangsmandat hat.
4. Ist das Bestehen des Beteiligungsrechts ungewiss und führt schon seine bloße Sicherung zu Rechtsbeeinträchtigungen des Anspruchsgegners, erfordert der Erlass einer Sicherungsverfügung über die bloße Gefahr des Untergangs des Beteiligungsrechts hinaus einen besonderen Verfügungsgrund. Dieser muss von solchem Gewicht sein, dass er die erst im Hauptsacheverfahren endgültig zu klärende Ungewissheit über den Verfügungsanspruch kompensieren kann.
5. Das Gewicht des Verfügungsgrundes bemisst sich insbesondere nach dem mit dem Beteiligungsrecht bezweckten Schutz der Arbeitnehmer. Es wird hier dadurch gemindert, dass das Beteiligungsrecht nach §§ 111, 112 BetrVG auf den bloßen Versuch eines Interessenausgleichs gerichtet ist. Hinzu tritt, dass der Betriebsrat gemäß § 100 ArbGG die Möglichkeit hat, Beratungen und Verhandlungen über einen Interessenausgleich initiativ vor die Einigungsstelle zu bringen. Zu berücksichtigen ist ferner im Rahmen einer Folgenabwägung, dass ein Ersatzanspruch des Arbeitgebers aus § 945 ZPO für das Beschlussverfahren gemäß § 85 Abs. 2 Satz 2 ArbGG ausgeschlossen ist. 6. Zur Zulässigkeit einer objektiven und subjektiven Antragserweiterung im Beschwerderechtszug.
Siehe:
http://www.justiz.nrw.de/nrwe/arbgs/duesseldorf/lag_duesseldorf/j2021/NRWE_LAG_D_sseldorf_4_TaBVGa_6_20_Beschluss_20210106.html
XI.
Anfechtung eines Prozessvergleichs wegen arglistiger Täuschung - Frage nach anrechenbaren anderweitigen Verdienst
Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 25.11.2020, Az. 7 Sa 319/18
Die Parteien stritten über Vergütungs- bzw. Entgeltfortzahlungsansprüche der Klägerin für die Zeit von Februar 2016 bis einschließlich Februar 2018.
Siehe:
http://www.landesrecht.rlp.de/jportal/portal/t/yqw/page/bsrlpprod.psml?pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&js_peid=Trefferliste&fromdoctodoc=yes&doc.id=JURE210001310&doc.part=L&doc.price=0.0&doc.hl=1#focuspoint
XII.
Nachtarbeitszuschlag - Zuschlagshöhe - Differenzierung - Nachtarbeit - Nachtschichtarbeit - Mehrarbeit - Tarifauslegung – Feinkostindustrie
Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 17.11.2020, Az. 8 Sa 451/19
1. Die Differenzierung der Nachtzuschlagssätze gemäß § 5 Ziffer 1 Buchst. c und Buchst. e Manteltarifvertrag Feinkost-, Nährmittel- und Teigwarenindustrie in Hessen und Rheinland-Pfalz ist sachlich gerechtfertigt und verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz.(Rn.139)(Rn.179)
2. Tarifverträge sind in ihrem normativen Teil wie Gesetze auszulegen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt.(Rn.146)
3. Die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie gewährt den Tarifvertragsparteien einen weiten Gestaltungsspielraum. Ihnen kommt eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen zu. Sie sind nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund vorliegt.(Rn.180)
4. Kann das Gericht aus eigener Einsicht und auch aus dem Vortrag der Streitparteien hinreichende Sachgründe für die tarifliche Regelung nicht erkennen, so ist es mit Blick auf die verfassungsrechtlich geschützte Tarifautonomie gehalten, eine Tarifauskunft gemäß § 293 ZPO bei den Tarifvertragsparteien zu der Frage einzuholen, welche tatsächlichen Umstände im betroffenen Tarifgebiet die sachliche Grundlage für die Vereinbarung der umstrittenen Tarifnorm bilden (Anschluss an BAG 16. September 1993 - 2 AZR 697/92 -).(Rn.153)
5. Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz ist erst dann anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien trotz bestehender Sachgründe für die getroffene Differenzierung tatsächliche Umstände außer Acht gelassen haben, die so bedeutsam sind, dass sie bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise hätten beachtet werden müssen. Das ist nur dann anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien zu Lasten der Arbeitnehmer einen sittenwidrigen "Hungerlohn" vereinbart haben (Anschluss an BAG 24. März 2004 - 5 AZR 303/03 -) oder - spiegelbildlich - zu Lasten der Arbeitgeber einen wucherisch hohen Lohn insbesondere für die dringend benötigte Nachtarbeit. Eine weitergehende "Gerechtigkeitsprüfung" durch das Gericht, die letztlich auf eine Angemessenheitskontrolle iSd. § 307 BGB hinausläuft und mit einem Eingriff in die Gestaltungsrechte der Tarifvertragsparteien verbunden ist, wäre allerdings mit Blick auf die verfassungsrechtlich geschützte Tarifautonomie nicht zu rechtfertigen und auch mit der gesetzgeberischen Wertung in § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB unvereinbar.(Rn.165)
Siehe:
http://www.landesrecht.rlp.de/jportal/portal/t/ucs/page/bsrlpprod.psml?doc.hl=1&doc.id=KARE600061167&documentnumber=2&numberofresults=5106&doctyp=juris-r&showdoccase=1&doc.part=K¶mfromHL=true#focuspoint
XIII.
Gegenstandswertfestsetzung - wirtschaftliche Identität von Bestandsschutzantrag und Annahmeverzugslohnforderung
Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 05.11.2020, Az. 8 Ta 75/20
1. Zwischen einem Bestandsschutzantrag und dem Antrag auf Zahlung von Annahmeverzugslohn für die Zeit ab dem behaupteten Beendigungstermin besteht wirtschaftliche Identität iSd. § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG (juris: GKG 2004) bis zum Wert des Bestandsschutzantrags nach § 42 Abs. 2 Satz 1 GKG (juris: GKG 2004), weil dieser Annahmeverzugslohn vom Bestand des Arbeitsverhältnisses abhängt und der Zahlungsantrag in diesem Verfahren ohne weiteres abgewiesen werden kann, wenn der Bestandsschutzantrag erfolglos ist.(Rn.48)
2. Die Kostenersparnis aus § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG (juris: GKG 2004) dient dem Zweck, eine Arbeitserleichterung des Gerichts zu fördern, die sich daraus ergibt, dass der Rechtsstreit statt in zwei getrennten Verfahren über den Bestandsschutzantrag einerseits und den Zahlungsantrag andererseits in einem einheitlichen Verfahren behandelt wird und auf diese Weise Personal-, Termin- und Raumkapazitäten des Gerichts geschont werden. Die Norm bezweckt nicht, Prozessvertreter oder Gericht von der Behandlung schwieriger Rechtsfragen zu entlasten. Kostenrechtlich ist es deshalb unerheblich, ob die beklagte Partei gegen den Zahlungsantrag sonstige Einwände erhoben hat.(Rn.50)
3. § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG (juris: GKG 2004) verlangt eine rein wirtschaftliche Betrachtung der Verfahrensgegenstände. Auf den prozessualen Streitgegenstandsbegriff kommt es insoweit nicht an.(Rn.51)
Siehe:
http://www.landesrecht.rlp.de/jportal/portal/t/ucs/page/bsrlpprod.psml?doc.hl=1&doc.id=JURE210000828&documentnumber=3&numberofresults=5106&doctyp=juris-r&showdoccase=1&doc.part=K¶mfromHL=true#focuspoint
XIV.
Verhaltensbedingte Kündigung - Verstoß gegen Weisung - pflichtwidriges Abstellen eines Transporters des Arbeitgebers – Interessenabwägung
Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 05.11.2020, Az. 5 Sa 147/20
1. Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung.
2. Der im März 1969 geborene, verwitwete Kläger ist seit August 1989 bei der Beklagten als Gleisbauer zu einer Bruttomonatsvergütung von zuletzt rund € 3.600,00 beschäftigt. Die Beklagte beschäftigt ca. 90 Arbeitnehmer; es besteht ein Betriebsrat. Der Kläger war bis Ende des Jahres 2017 Mitglied des Betriebsrats; seit der Neuwahl ist er Ersatzmitglied.
3. Mit Schreiben vom 28.11.2019 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 30.06.2020. Gegen diese Kündigung erhob der Kläger am 03.12.2019 Klage. Er macht geltend, die Kündigung sei iSv. § 1 Abs. 2 KSchG sozial nicht gerechtfertigt, überdies sei der Betriebsrat nach § 102 BetrVG nicht ordnungsgemäß angehört worden. Im Anhörungsschreiben an den Betriebsrat vom 20.11.2019 heißt es auszugsweise:
Siehe:
http://www.landesrecht.rlp.de/jportal/portal/t/z93/page/bsrlpprod.psml?pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&js_peid=Trefferliste&documentnumber=4&numberofresults=5106&fromdoctodoc=yes&doc.id=JURE210001319&doc.part=L&doc.price=0.0&doc.hl=1#focuspoint
XV.
Auflösungsantrag des Arbeitnehmers – Abfindung
Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 05.11.2020, Az. 5 Sa 262/19
1. Die Parteien streiten zweitinstanzlich noch über die vom Kläger beantragte Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer Abfindung.
2. Die Beklagte betreibt ein Handelsunternehmen mit türkischen/orientalischen Süßwaren; sie beschäftigt mehr als zehn Arbeitnehmer. Der 1982 geborene Kläger (verheiratet, ein Kind) war seit 2009 bei der Beklagten als Fahrer zu einer monatlichen Bruttovergütung von zuletzt € 2.675,00 beschäftigt. Mit Schreiben vom 30.11.2018, dem Kläger am 28.02.2019 übergeben, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 28.02.2019, hilfsweise zum nächstzulässigen Termin. Mit Klageschrift vom 04.03.2019 erhob der Kläger Kündigungsschutzklage, er verlangte außerdem seine Weiterbeschäftigung und ein Zeugnis. Die Beklagte machte geltend, dem Kläger fehle das Rechtschutzbedürfnis für die Kündigungsschutzklage, denn er habe sie überredet, ihm eine rückdatierte „Gefälligkeitskündigung“ zu erklären.
3. Am Vormittag des 03.04.2019 fand vor dem Arbeitsgericht ein Gütetermin statt. Im Ergebnis wollten die Parteien dem Gericht bis zum 17.04.2019 mitteilen, ob eine gütliche Einigung erzielt werden konnte. Nach dem unbestritten gebliebenen Vortrag der Beklagten traf ihr Geschäftsführer am Nachmittag des 04.04.2019 den Kläger bei einem Kunden in Heidelberg. Der Kläger trat bei diesem Kunden als Außendienstmitarbeiter eines Wettbewerbers der Beklagten (X. GmbH aus M.) auf und nahm Bestellungen entgegen.
4. Mit Schriftsatz vom 17.04.2019 hat die Beklagte den Kündigungsschutzantrag förmlich anerkannt und den Kläger gleichzeitig aufgefordert, seine Arbeit unverzüglich wieder aufzunehmen. Mit Schriftsatz vom 10.05.2019 erkannte sie auch den Zeugnisantrag an. Der Kläger beantragte mit Schriftsatz vom 17.04.2019 die Auflösung des Arbeitsverhältnisses zum 30.06.2019 gegen Zahlung einer Abfindung. Er stellte sich einen Betrag von € 13.375,00 (10 Jahre x € 2.675,00 x 0,5) vor. Den Weiterbeschäftigungsantrag stellte er nicht mehr.
Siehe:
http://www.landesrecht.rlp.de/jportal/portal/t/zn4/page/bsrlpprod.psml?pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&js_peid=Trefferliste&documentnumber=5&numberofresults=5106&fromdoctodoc=yes&doc.id=JURE210001321&doc.part=L&doc.price=0.0&doc.hl=1#focuspoint
XVI.
Kündigung wegen Minderleistung - Abmahnung - Kündigungsvollmacht – Prokurist
Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 05.11.2020, Az. 5 Sa 167/20
1. Die Parteien streiten über die Wirksamkeit von zwei ordentlichen Kündigungen, die vorläufige Weiterbeschäftigung des Klägers, die Entfernung einer Abmahnung und Schadensersatz wegen des Entzugs eines auch zur Privatnutzung überlassenen Dienstwagens.
2. Der 1962 geborene, verheiratete Kläger ist seit dem 01.05.2018 als Außendienstmitarbeiter bei der Beklagten, die einen Fachgroßhandel für Farben, Lacke, Tapeten und Bodenbeläge betreibt, zu einem Bruttomonatsgehalt von € 4.000,00 beschäftigt. Die Beklagte stellte dem Kläger einen Dienstwagen auch zur privaten Nutzung zur Verfügung. Der geldwerte Vorteil wurde monatlich mit € 457,00 versteuert. Die Beklagte beschäftigt regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer iSd. KSchG.
3. Im schriftlichen Arbeitsvertrag vom 12.03.2018 haben die Parteien ua. geregelt.
Siehe:
http://www.landesrecht.rlp.de/jportal/portal/t/zsk/page/bsrlpprod.psml?pid=Dokumentanzeige&showdoccase=1&js_peid=Trefferliste&documentnumber=6&numberofresults=5106&fromdoctodoc=yes&doc.id=JURE210001356&doc.part=L&doc.price=0.0&doc.hl=1#focuspoint
XVII.
Betriebsrat, Unterlassungsanspruch, Gefährdungsbeurteilung, Einstweilige Verfügung, Verfügungsanspruch, Betriebsstättenverlegung
LAG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 12.01.2021, Az. 1 TaBV Ga 4/20
Die Beteiligten streiten im Rahmen eines einstweiligen Verfügungsverfahrens über die Inbetriebnahme einer neuen Zustellbasis einschließlich einer Paketverteilanlage vor Durchführung einer mitbestimmten Gefährdungsbeurteilung.
Die Antragsgegnerin (Arbeitgeberin) ist für die Zustellung und Verteilung von Briefen und Paketsendungen in S...-H...und Teilen M...-V...zuständig. Sie beschäftigt in ihrer Niederlassung ca. 6.000 Arbeitnehmer. Pakete werden im Paketzentrum N...an-geliefert und von dort in die verschiedenen Zustellbasen verteilt, u.a. bislang in das Zustellzentrum in K...-G..., K....
Siehe:
https://www.sit.de/lagsh/ehome.nsf/918A60EE03BBF242C12586840031553E/$file/Beschluss-1-TaBVGa-4-20-12-01-2021.pdf
XVIII.
Elektronischer Rechtsverkehr, Elektronische Dokumente, Übermittlung, vorübergehende Unmöglichkeit, technische Gründe, unverzügliche Glaubhaftmachung, Kenntnis, Arbeitsgericht
ArbG Lübeck, Urteil vom 01.10.2020, Az. 1 Ca 572/20
Die Parteien streiten nach ordentlicher Arbeitgeberkündigung im Kontext einer Betriebsübernahme aus der Insolvenz über den Fortbestand ihres Arbeitsverhältnisses, um Weiterbeschäftigung und um nachträgliche Klagzulassung.
Die zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Klägerin ist seit über 20 Jahren bei der Beklagten zu 1. beschäftigt, zuletzt in leitender Funktion im Support Departement Finanzen & Controlling zu einem durchschnittlichen Bruttomonatsgehalt in Höhe von 9.032,05 EUR.
Die Beklagte zu 1., die weit mehr als zehn Arbeitnehmer in Vollzeit beschäftigt, stellt Golfmodeartikel her und vertreibt diese. Mit Beschluss des Amtsgerichts R.vom 1.2.2020 (Az. .. 168/19) wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Beklagten zu 1. eröffnet und der Beklagte zu 2. zum Insolvenzverwalter bestellt.
Siehe:
https://www.sit.de/lagsh/ehome.nsf/4F07D7966E6B924DC125867900424175/$file/Urteil-1-Ca-572-20-01-10-2020_L%C3%BCbeck.pdf
XIX.
Streitwert, Gegenstandswert, Wertfestsetzung, Zustimmungsersetzung, Betriebsrat, Eingruppierung, Vergütungsdifferenz, Streitwertkatalog, Hilfswert
LAG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 04.01.2021, Az. 3 Ta 126/20
Die Antragstellerin (Arbeitgeberin) hat im Rahmen eines am 27.06.2019 eingeleiteten Verfahrens gemäß § 99 BetrVG beim Arbeitsgericht Lübeck einen Antrag auf Zustimmung zur Eingruppierung eines Arbeitnehmers (Betriebsratsmitglieds) in die Entgelt-gruppe 9b Stufe 6 TVÖD-VKA gestellt. Der betroffene Arbeitnehmer war in EG 8 TVÖD-VKA eingruppiert. Die monatliche Differenz zwischen beiden Vergütungsgruppen beträgt 940,02 EUR. Die Arbeitgeberin hatte im Rahmen des Zustimmungsersetzungsantrages die Ansicht vertreten, die Zustimmung des Betriebsrats zur Eingruppierung gelte bereits seit Ende 2018 als erteilt, während der Betriebsrat gemeint hat, nicht vollständig informiert worden zu sein. Die Beteiligten des Ausgangsverfahrens haben in der Beschwerdeinstanz am 17.09.2020 einen verfahrensbeendenden Vergleich geschlossen.
Siehe:
https://www.sit.de/lagsh/ehome.nsf/605AA51EB61DF224C1258678004D399E/$file/Beschluss-3-Ta-126-20-04-01-2021.pdf
XX.
Arbeitskampf, Notdienst, Notdienstvereinbarung, Umfang, Vorgaben, Aufsichtsbehörde, Sicherung, Verantwortlichkeit, gerichtliche Einsetzung, Verfügungsgrund
LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 13.11.2020, Az. 3 SaGa 7/20
Die Parteien streiten im einstweiligen Verfügungsverfahren über die Einrichtung eines Notdienstes für die Objektsicherungsdienste –hier in dem stillgelegten Kernkraft-werk B....
Die Verfügungsklägerin (Klägerin) ist ein Unternehmen der Sicherheitswirtschaft und Mitglied der Landesgruppe S... H...des B... d... S... (BDSW).
Die Verfügungsbeklagte zu 1. (Beklagte zu 1.) ist die tarifzuständige Gewerkschaft für den Bereich der Sicherheitswirtschaft, die Verfügungsbeklagte zu 2. (Beklagte zu 2.) ihr für das Bundesland S... H...zuständiger Landesbezirk. Die Beklagte zu 2. schließt mit der Landesgruppe S... H...des BDSW Tarifverträge. Die Landesbezirke der Beklagten zu 1. sind ermächtigt, mit den Mitgliedsunternehmen des BDSW Notdienstvereinbarungen abzuschließen.
Siehe:
https://www.sit.de/lagsh/ehome.nsf/5F7AEC39AECD48E2C1258677005A72CE/$file/Urteil-3-SaGa-7-20-13-11-2020.pdf
XXI.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 14. Dezember 2020 -VI ZR 573/20
Eine Klageänderung in der Revisionsinstanz ist grundsätzlich unzulässig.
Siehe:
https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&Datum=Aktuell&Sort=12288&Seite=4&nr=113748&pos=124&anz=502
XXII.
Berufshaftpflichtversicherung einer Sozietät zugunsten ihrer angestellten Rechtsanwälte kann teilweise zu Arbeitslohn führen
Bundesfinanzhof, Urteil vom 01. Oktober 2020, Az. VI R 12/18
1. Die Einbeziehung eines angestellten Rechtsanwalts in die Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung einer Sozietät führt in Höhe des Prämienanteils, der auf die in § 51 Abs. 4 BRAO vorgeschriebene Mindestbemessungsgrundlage entfällt, zu Arbeitslohn, wenn der angestellte Rechtsanwalt erst durch den Einbezug in die Sozietätsversicherung seiner Versicherungspflicht nach § 51 Abs. 1 Satz 1 BRAO genügt.
2. Haftet der angestellte "Briefkopfanwalt" im Außenverhältnis nicht für eine anwaltliche Pflichtverletzung, ist seine Einbeziehung in den über die Mindestversicherungssumme hinausgehenden Versicherungsschutz der Sozietät allein dieser aus versicherungsrechtlichen Gründen geschuldet. Der hierauf entfallende Prämienanteil führt daher nicht zu Arbeitslohn.
Siehe:
https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail/STRE202110015/
Mit besten Grüßen
Ihr
Michael Henn
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Erbrecht
Fachanwalt für Arbeitsrecht
VDAA – Präsident
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