Oberlandesgericht Hamm: Gehbehinderter Fahrgast stürzt im anfahrenden Linienbus - Verkehrsbetrieb und Busfahrer haften nicht
(Kiel) Der Fahrer eines Linienbusses darf den Bus nach dem Zustieg eines laut Schwerbehindertenausweis gehbehinderten Fahrgastes, dessen Einschränkung äußerlich nicht erkennbar ist, anfahren, bevor der Fahrgast einen Sitzplatz eingenommen hat.
Allein die Vorlage eines Schwerbehindertenausweises mit dem Merkzeichen G verpflichtet den Fahrer nicht zur besonderen Rücksichtnahme. Vielmehr kann von dem gehbehinderten Fahrgast erwartet werden, dass er den Busfahrer auf seine Gehbehinderung anspricht und ggfls. darum bittet, das Anfahren bis zur Einnahme eines Sitzplatzes zurückzustellen.
Darauf verweist der Erlanger Fachanwalt für Verkehrsrecht Marcus Fischer, Vizepräsident des VdVKA - Verband deutscher VerkehrsrechtsAnwälte e. V. mit Sitz in Kiel, unter Hinweis auf die Mitteilung des Oberlandesgerichts Hamm (OLG) vom 20.04.2018 zu seinen rechtskräftigen Beschlüssen vom 13.12.2017 und 28.02.2018 (Az. 11 U 57/17 OLG Hamm).
Die seinerzeit 60 Jahre alte Klägerin aus Herne bestieg im April 2016 den vom zweitbeklagten Busfahrer gesteuerten Linienbus des erstbeklagten kommunalen Nahverkehrsbetriebs aus dem mittleren Ruhrgebiet. Die Klägerin ist aufgrund eines Hüftschadens zu 100 % schwerbehindert. Ihr Schwerbehindertenausweis ist mit dem Merkzeichen G versehen. Eine Gehhilfe benutzt die Klägerin nicht. Beim Einstieg zeigte die Klägerin ihren Schwerbehindertenausweis vor, ohne den Busfahrer um eine weitere Rücksichtnahme zu bitten. Sie setzte sich sodann nicht auf den hinter dem Fahrer befindlichen, für Schwerbehinderte ausgewiesenen Sitzplatz oder einen anderen, nahegelegenen freien Sitzplatz, sondern ging durch den Bus, um sich auf einen Sitzplatz in der Nähe des ersten Ausstiegs zu setzen. Bevor die Klägerin sich setzen konnte, fuhr der Bus an. Hierbei stürzte die Klägerin und zog sich einen Oberschenkelbruch zu.
Aufgrund der erlittenen Verletzungen hat die Klägerin von den Beklagten Schadensersatz verlangt, u.a. ein Schmerzensgeld in Höhe von 11.500 Euro und den Ausgleich eines Haushaltsführungsschadens von ca. 4.000 Euro. Sie hat gemeint, der Busfahrer habe allein aufgrund des vorgezeigten Schwerbehindertenausweises mit dem Anfahren abwarten müssen, bis sie einen Sitzplatz eingenommen habe.
Das Klagebegehren ist erfolglos geblieben. Der 11. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm hat die klageabweisende erstinstanzliche Entscheidung des Landgerichts Bochum bestätigt.
Ein Fahrgast habe sich, so der Senat, unmittelbar nach dem Zusteigen in einer Straßenbahn oder einen Linienbus sicheren Stand oder einen Sitzplatz sowie sicheren Halt zu verschaffen. Werde dies gerade in dem Zeitraum des besonders gefahrenträchtigen Anfahrens versäumt, treffe den Fahrgast ein erhebliches Mitverschulden. Hinter diesem trete die Betriebsgefahr des Verkehrsmittels regelmäßig völlig zurück. Im vorliegenden Fall habe die Klägerin gegen ihre Obliegenheit zur Eigensicherung verstoßen. Sie habe keinen im Einstiegsbereich vorhandenen freien Sitzplatz eingenommen und sich beim Anfahren nicht hinreichend festgehalten. Zudem habe sie den Busfahrer auch nicht darum gebeten, mit dem Anfahren abzuwarten, bevor sie Platz genommen habe.
Ein Verschulden des Busfahrers sei demgegenüber nicht festzustellen. Von einem Busfahrer, der auf andere Verkehrsteilnehmer und äußere Fahrtsignale zu achten habe, sei regelmäßig nicht zu verlangen, dass er zugestiegene Fahrgäste besonders im Blick behalte. Eine solche Verpflichtung sei nur ausnahmsweise gegeben, wenn für den Busfahrer eine schwerwiegende Behinderung des Fahrgastes erkennbar sei, nach der der Fahrgast ohne besondere Rücksichtnahme gefährdet sei.
Ein solcher Ausnahmefall habe für den beklagten Busfahrer nicht vorgelegen. Die Klägerin habe den Bus ohne erkennbare Probleme und ohne fremde Hilfe bestiegen und keinen der nahegelegenen, freien Sitzplätze eingenommen. Allein aus der Vorlage des Schwerbehindertenausweises - wobei offenbleiben könne, ob die Klägerin tatsächlich auch die Rückseite mit dem Merkzeichen G vorgezeigt habe - habe der Busfahrer nicht schließen müssen, dass die Klägerin ohne eine besondere Rücksichtnahme gefährdet sei.
Ein Schwerbehindertenausweis, auch ein solcher wie der der Klägerin, der zur unentgeltlichen Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs berechtige, besage nicht, dass auf den Inhaber beim Zusteigen in öffentliche Verkehrsmittel grundsätzlich besonders Rücksicht zu nehmen sei. So könne z.B. von einem gehörlosen Menschen regelmäßig angenommen werden, dass er keiner besonderen Hilfe bedürfe, um in einem Linienbus einen Sitzplatz einzunehmen. Ein Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen G erhalte zudem auch ein primär in seiner Orientierungsfähigkeit gestörter Mensch, auf den bei der Sitzplatzeinnahme in einem Linienbus ebenfalls nicht besonders Rücksicht genommen werden müsse. Deswegen sei von einer behinderten Person, die - wie die Klägerin - äußerlich keine Anzeichen für eine Gehbeeinträchtigung erkennen lasse, zu erwarten, dass sie den Busfahrer auf ihre Situation aufmerksam mache und ggfls. bitte, das Anfahren bis zur Einnahme eines Sitzplatzes zurückzustellen.
Fischer riet, dies zu beachten und in allen Zweifelsfällen unbedingt rechtlichen Rat in Anspruch zu nehmen, wobei er dabei u. a. auch auf den VdVKA - Verband deutscher Verkehrsrechtsanwälte e. V. – www.vdvka.de - verwies.
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Marcus Fischer
Rechtsanwalt/Fachanwalt für Verkehrsrecht
Vize-Präsident des VdVKA - Verband Deutscher VerkehrsrechtsAnwälte e. V.
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